Wie viel Zeit bleibt zum Reagieren bei politischen Risiken?

03.12.2021

Von der Früherkennung zum Ausbruch von Gewalt - Die Analyse von Konfliktdynamiken

Es ist die Schlüsselfrage in jeder Risikobewertung: Wie viel Zeit bleibt zum Reagieren (Broadbent 1971)? Obwohl in der Medizin und in vielen anderen Naturwissenschaften genau diese Frage zum entscheidenden Kern jeglicher Behandlungsstrategie und anderen Reaktionsanalysen darstellt, ist die Zeit ein nur selten beachteter Einflussfaktor bei der Analyse politischer Risiken.

Eine große Ausnahme stellt hier der CONIAS Ansatz dar (Schwank 2012), eine Weiterentwicklung der KOSIMO Datenbank (Billing 1992; Pfetsch und Billing 1994; Pfetsch und Rohloff 2000; Rohloff und Pfetsch Frank R.): Der CONIAS Ansatz wurde unter Förderung der Europäischen Union speziell zur Verbesserung der Konfliktfrüherkennung entwickelt (Schwank 2012, 23ff.). Außerdem sollte durch eine verbesserte Frühwarnung auch der Reaktionszeitraum vergrößert werden, damit Hilfsorganisationen innerhalb der Europäischen Union sich länger und damit besser auf drohende Gefahren einstellen können.

CONIAS Konfliktmodell

Das dynamische CONIAS Risk Intelligence Konfliktmodell

Methodische Grundlage ist das eigens zur Analyse von Konfliktdynamiken entwickelte fünf-stufige CONIAS Konfliktmodell (Schwank 2012, S. 174–181; Schwank et al. 2013). Es unterscheidet die folgenden Intensitäten:

  1. Disput: Auf dieser Stufe treffen die Mindestanforderungen für einen politischen Konflikt zu: Es wird ein Interessenskonflikt über eine gesellschaftlich relevante, größere Bevölkerungsteile betreffende, Thematik festgestellt. Dabei sind mindestens zwei der beteiligten Akteure in der Lage, eine wirksame Veränderung im umstrittenen Themenbereich herzustellen. Zudem gilt, dass die eingeschlagenen Maßnahmen außerhalb etablierter Regelungsverfahren liegen bzw. ein friedlicher, gewaltloser Konfliktaustrag nicht erwartet werden kann. Wichtig in dieser Stufe ist, dass die Konfliktparteien auf jegliche Gewaltandrohung verzichten.
  2. Nicht-gewaltsame Krise: Alle unter 1) genannten Bedingungen treffen zu, zusätzlich zeigt mindestens einer der beteiligten Akteure Gewaltbereitschaft, oder – und dies trifft vorwiegend bei zwischenstaatlichen Konflikten zu – versucht anderen durch wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen zu schaden.
  3. Gewaltsame Krise: Mindestens einer der Beteiligten setzt Gewalt bewusst und gezielt als Konfliktstrategie ein. Dabei handelt es sich aber i.d.R. um vereinzelte und in der Wirkung begrenzte Gewalthandlungen wie Messerüberfälle, gezielte Erschießungen oder Bombenanschläge. Im zwischenstaatlichen Bereich fallen hier auch Scharmützel wie beispielsweise Schusswechsel zwischen Grenzposten. Wichtig dabei ist, dass in der Phase der gewaltsamen Krise nicht unbedingt Menschen sterben müssen. Es genügt, die Absicht oder Zielwirkung der Maßnahmen.
  4. Begrenzter Krieg: Im Gegensatz zur vorangegangenen Stufe, der Gewaltsamen Krise, wird hier Gewalt deutlich häufiger, in einem erheblichen Umfang und mit erheblichem Schaden ausgetragen. Dennoch bleibt der Konfliktaustrag begrenzt, was bedeutet, dass große Teile der Gesellschaft in der betroffenen Region nicht direkt Gewalt ausgesetzt sind bzw. der Gewalt ausweichen können.
  5. Krieg: Die betroffene Region ist gekennzeichnet von massiver organisierter und strategisch operierender Gewalt. Die Lage ist auch dadurch gekennzeichnet, dass eine Lösung des Konfliktes mit Gewalt erzwungen werden soll. Für Diplomatie und Gespräche ist kaum Platz, humanitäre Rücksichtnahme ist auf ein Minimum reduziert. Es ist mit großen Zerstörungen an Infrastruktur und vielen Todesopfern zu rechnen.

Beobachtung von gewaltsamen und nicht-gewaltsamen Konfliktverläufen lässt Rückschlüsse auf Erfolg des Konfliktmanagements zu

Ziel des CONIAS Modells ist es, einen idealen Verlauf der Eskalation, aber auch der Deeskalation eines Konfliktes abzubilden. Ein herausragendes Merkmal des Ansatzes ist, dass auch die nicht-gewaltsamen Phasen eines Konfliktverlaufs abgebildet werden. Dies ermöglicht zum einen, den zeitlichen Abstand zwischen dem Beginn eines Konfliktes und seiner gewaltsamen Eskalation zu ermitteln. Zum anderen gibt das Modell die Möglichkeit, zu untersuchen, wie der „Abkühlungsprozess“ eines Krieges in der Realität vonstattengeht und – was extrem wichtig ist – wie oft Kriege nach einer Einstellung der Gefechte erneut eskalieren.

Zusätzlich gibt es noch eine dritte Funktion des Modells, die teilweise als die Wichtigste des gesamten Ansatzes verstanden wird: Durch den Vergleich zwischen strukturell ähnlichen Konflikten, die zum einen gewaltlos und zum anderen gewaltsam eskalieren, lassen sich Rückschlüsse über erfolgreiches Konfliktmanagement und auf „toxische“ und „nicht-toxische“ Konflikten ziehen. Dementsprechend können mit dem CONIAS Modell nicht nur Konflikte frühzeitig erkannt werden, sondern auch ihr Risikowert, also die Gefahr einer kriegerischen Eskalation, bestimmt werden. Somit können Ressourcen bei der Beobachtung und Analyse auf die Konflikte konzentriert werden, die tatsächlich ernsthaften Schaden verursachen können.

Entscheidende Erkenntnisse zum Eskalationsverhalten

Anhand von CONIAS Daten wurde das Eskalationsverhalten von mehr als 670 politischen Konflikten für den Zeitraum zwischen 1945 und 2005 untersucht (Schwank 2012). Wichtige Erkenntnisse der Studie sind u.a., dass

  • inner- und zwischenstaatliche Konflikte unterschiedliche Eskalationszeiträume haben
  • eine Vielzahl der innerstaatlichen Konflikte innerhalb von drei Jahren nach Konfliktbeginn kriegerisch eskalieren
  • die Art der umstrittenen Güter, also die Konfliktgegenstände, einen gewissen Einfluss auf die Eskalationsgeschwindigkeit haben
  • die Historie von Staaten und ihre Erfahrung mit Kriegen einen ganz erheblichen Einfluss auf die Eskalationsgeschwindigkeit haben.

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Diese einmaligen Analyseergebnisse sowie viele andere weitere Daten zum Eskalationsverhalten politischer Konflikte fließen in die Produkte von MBI CONIAS ein. Deshalb können nur mit CONIAS Risk Intelligence Aussagen über die Dynamiken und erwarteten Veränderungsprozesse auf breiter empirischer Grundlage treffen.

Über den Autor:
Dr. Nicolas Schwank
Chief Data Scientist Political Risk
CONIAS Risk Intelligence
Michael Bauer International GmbH

In Memoriam Prof. Dr. Frank R. Pfetsch (+18.11.2021).

Literaturverzeichnis
Billing, Peter (1992): Eskalation und Deeskalation internationaler Konflikte. Ein Konfliktmodell auf der Grundlage der empirischen Auswertung von 288 internationalen Konflikten seit 1945. Frankfurt am main, New York: P. Lang (Europäische Hochschulschriften. Reihe XXXI, Politikwissenschaft Publications universitaires européennes. Série XXXI, Sciences politiques, vol. 192).
Broadbent, Donald E. (1971): Decision and stress. London, New York: Academic P.
Pfetsch, Frank R.; Billing, Peter (1994): Datenhandbuch nationaler und internationaler Konflikte. 1. Aufl. Baden-Baden: Nomos-Verl.-Ges.
Pfetsch, Frank R.; Rohloff, Christoph (2000): National and international conflicts, 1945 - 1995. New empirical and theoretical approaches. London: Routledge (Routledge advances in international relations and politics, 11).
Rohloff, Christoph; Pfetsch Frank R.: KOSIMO: A Databank on Political Conflict. In: Journal of Peace Research 37 (3), S. 379–389, zuletzt geprüft am 01.12.2021.
Schwank, Nicolas (2012): Konflikte, Krisen, Kriege. Die Entwicklungsdynamiken politischer Konflikte seit 1945. 1. Auflage. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Online verfügbar unter https://doi.org/10.5771/9783845238548.
Schwank, Nicolas; Trinn, Christopher; Wencker, Thomas (2013): Der Heidelberger Ansatz der Konfliktdatenerfassung. In: Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung (2), S. 32–63.