Die Welt in Zeiten der Krisen

13.04.2023

In den letzten Tagen wurde insbesondere in den Osterbotschaften der christlichen Kirchen immer wieder auf die desolate Lage der Welt und die vielen politischen Krisen hingewiesen. Waren dies nur Allgemeinplätze, die zu den Osterbotschaften besonders gut passen? Die MBI CONIAS Daten bestätigen: Wir leben aktuell in einer besonderen globalen Krisensituation. Noch nie war die Anzahl der Kriege und aktuellen Konflikte so hoch wie aktuell. Nähere Details finden sich in diesem Artikel.

Die aktualisierte CONIAS-Verlaufsgrafik zeigt die gesamte Konfliktentwicklung seit 1945. Sie verdeutlicht auf den ersten Blick, dass wir uns – insbesondere im Vergleich mit den 1950er bis 1970er Jahren – in einer besonderen Ausnahmesituation befinden. Die Grafik vermittelt eindeutig, dass die Anzahl der gewaltsamen Konflikte im Lauf der Jahrzehnte teilweise um das Zehnfache gestiegen ist – besonders die der innerstaatlichen Konflikte unterhalb der Kriegsschwelle (typischerweise Terroranschläge, Rebellenaktionen, aber auch Ausschreitungen bei Demonstrationen).

Anzahl und Entwicklung der politischen gewaltsamen Konflikte seit 1945

Grafik, die die Anzahl und Entwicklung der gewaltsamen politischen Konflikte seit 1945 aufzeigt

Bei Diskussion dieser Grafik in Präsentationen und Schulungen wird oft vermutet, dass der Verlauf der Graphen eher ein Abbild der Verfügbarkeit der Informationsressourcen als der tatsächlichen politischen Entwicklung ist. Die Vermutung ist angesichts des Einflusses des Internets, seinen vielfältigen Informationsquellen und der daraus entstehenden Möglichkeit, nun Informationen zu politischen Konflikten von jedem Winkel der Erde, manchmal sogar in Echtzeit zu erhalten, mehr als berechtigt. In der Tat stehen uns heute aufbereitete Daten von Organisationen zur Verfügung, die über ein breites Netz an einheimischen Berichterstatter*innen verfügen und selbst aus Regionen berichten können, in die sich sonst kein/e Journalist*in traut. Diese fast unbekannten Konflikte – wenn es sie denn tatsächlich schon in den 1950er Jahren gegeben hat – sind in keiner Konfliktstatistik verzeichnet.

Wandel des internationalen Systems schafft Raum für politische Konflikte

Dennoch wäre es völlig unzureichend, den Anstieg politischer Konflikte allein auf das Internet und neue Informationsmöglichkeiten zurückzuführen. Diese Sichtweise allein würde völlig vernachlässigen, dass sich in den vergangenen 75 Jahren der Konfliktbeobachtung das internationale System nicht nur einmal gewandelt hat und dieser Wandel neue Räume und Möglichkeiten für politische Konflikte geschaffen hat.

Am deutlichsten wird dies zu Ende der 1980er und Beginn der 1990er Jahre: Das Ende des Ost-West-Konfliktes bedeutete eben auch ein Ende der bipolaren Situation und ein Ende massiver finanzieller und militärischer Unterstützung an sich schwacher Staaten, um diese ins jeweilige Lager zu ziehen. Die Reduktion dieser bis dahin teilweise massiven Leistungen an fremde Regierungen sorgte dafür, dass Staaten ihre Armeen nicht mehr finanzieren konnten. Somit sahen Rebellengruppierungen mit viel einfacheren Waffen, aber hoher Motivation, die Möglichkeit, durch den Einsatz von Gewalt ihre Forderungen oder Vorstellung von Politik – vielleicht auch nur in Teilen des Staates – umzusetzen.

Die Anschläge vom 11.9.2001 können ebenfalls als ein solches epochales Ereignis bestimmt werden, da die nachfolgenden Militäraktionen in Afghanistan und Irak die Gründung einer Vielzahl neuer religiös motivierter Gruppierungen hervorriefen und in einigen Teilen der Welt eine neue Art der Bedrohung schufen. Auch die Ankündigung des damaligen US-Präsidenten Trump im Jahr 2019, dass die USA sich nicht mehr in der Rolle des „Weltpolizisten“ sehen, schaffte Raum für eine Vielzahl neuer Konflikte, vorwiegend auf der Ebene der zwischenstaatlichen Konflikte.

Sicherheit als inflationärer Begriff: Veränderungen im Sicherheitsverständnis

Zu den beiden genannten Gründen kommt noch ein weiterer, ganz entscheidender Faktor hinzu, der den Anstieg der gewaltsamen Konflikte insbesondere unterhalb der Kriegsschwelle erklärt: Das Sicherheitsverständnis hat sich im Laufe der Jahrzehnte im Zusammenhang mit einer stark wachsenden Globalisierung, mit einem elementaren Anstieg des Welthandels und mit einer fast unüberschaubaren Anzahl von verknüpften Lieferketten stark verändert. Während in den Jahren des Kalten Krieges angesichts der atomaren Bedrohung das Interesse der (quantitativen) Konfliktforschung vor allem der Gefahr des zwischenstaatlichen Krieges, seiner Entstehung, Häufigkeit und Dauer galt, ist Sicherheit heute ein nahezu inflationär gebräuchlicher Begriff geworden. Sicherheit und die damit verbundenen Risiken werden heute selten angewendet auf „nationale Sicherheit“ oder „Sicherheit der Grenzen des eigenen Staates“, sondern Sicherheitsfragen beziehen sich im Zuge der vernetzten Weltwirtschaft vor allem auf Sicherheit der Lieferkette, der Produktion, von Transport und Logistik sowie Immobilien und Tourismuszielen.

Diese Erweiterung der Sicherheitsfragen führt fast unweigerlich auch zu einer Erweiterung der zu beobachtenden politischen Konflikte. Um einen bekannten Vergleich der Risikoforschung zu paraphrasieren: In den 1960er und 1970er Jahren vermutete man die Sicherheitsbedrohung fast ausschließlich durch die zwischenstaatliche atomare Bedrohung. Im Sinne einer frühzeitigen Risikoerkennung versuchte man jene diplomatischen und andere zwischenstaatlichen Spannungen und Konflikte zu entdecken, von denen man aus der Untersuchung der Vergangenheit wusste, dass sie sich zu Kriegen entwickeln können. Heute wissen wir, dass eine für Außenstehende zwar bedauernswerte, aber an sich nicht berichtenswerte Selbstverbrennung eines/einer einzelnen Gemüsehändler*in zum innenpolitischen Flächenbrand ganzer Landstriche führen kann – siehe die Ereignisse des arabischen Frühlings.

Dies lässt sich mit einem Forscher vergleichen, der jahrelang davon ausgeht, dass alle Schwäne weiß seien und er deshalb alle Entenvögel mit einer anderen Farbe vernachlässigen kann. Als er erfährt, dass es auch schwarze Schwäne gibt, muss er seinen Fokus verändern. Ebenso weiß heute die quantitative Konfliktforschung, dass es eine Vielzahl unterschiedlicher Ausgangspunkte für Sicherheitsrisiken gibt. Nicht alle werden immer in Krieg und Vernichtung, in Terror und Gewalt enden, aber sie müssen beobachtet und analysiert werden. Auch diese Tatsache erklärt den Anstieg der gewaltsamen Konflikte. Wir sehen heute nicht mehr nur weiße und schwarze Schwäne, sondern eine Vielzahl von neuen Farbschattierungen. Der verzeichnete Anstieg von politischen Gewaltkonflikten ist also in nicht unerheblichen Maßen einem geänderten Sicherheitsbedürfnis geschuldet.

Aus dieser Betrachtung ausgenommen ist die Anzahl und Entwicklung in der Kategorie „Kriege“. Hier sind die Definitionskriterien härter und höher als bei anderen politischen Gewaltkonflikten und deshalb auch über den gesamten Untersuchungszeitraum anwendbar. Der sichtbare Anstieg der Kriegszahlen bestätigt deshalb die Ausgangsthese: Wir befinden uns tatsächlich in einer Phase mit einer extrem hohen Anzahl politischer Krisen.

Wenn Sie mehr über politische Krisen und den damit verbundenen Risiken für Ihr Unternehmen erfahren möchten, melden Sie sich gerne zu unserer MBI CONIAS Academy an oder kontaktieren unser Experten-Team.

Über den Autor:
Dr. Nicolas Schwank
Chief Data Scientist Political Risk
CONIAS Risk Intelligence
Michael Bauer International GmbH