Szenarioanalyse zum weiteren Verlauf des Kriegs in der Ukraine

04.03.2022

Grafische Darstellung des Szenario Trichters

Die militärische Lage stellt sich aktuell (Stand 3.3.2022) so dar, dass Russland die Ukraine unter Verwendung belarussischer Gebiete aus drei Richtungen angreift und in das Land eindringt. Begleitet werden die Bewegungen des Heeres durch Luft- und Raketenangriffe, die auch den Westen des Landes treffen. In den letzten Tagen mehren sich Meldungen und Experteneinschätzungen, dass der Angriff nicht so läuft, wie von Russland geplant. Wohl versehentlich veröffentlichte offizielle russische Glückwunschschreiben untergeordneter Behörden lassen darauf schließen, dass Russland bereits zum 28.2.2022 das Land weitestgehend unter Kontrolle haben und die Kampfhandlungen einstellen wollte. Dazu kommen die Folgewirkungen des Krieges wie eine große Geschlossenheit der NATO, ein riesiges Aufrüstungsprogramm in Deutschland, die schwersten Sanktionen, die seit Jahrzehnten gegen ein Land – hier eben Russland – beschlossen wurden sowie die Verurteilung Russlands durch die UN-Vollversammlung. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, dass Finnland und Schweden ihre jahrzehntealte Haltung aufgeben und doch den Beitritt zur NATO wagen – die aktuelle Bilanz ist trotz aller Landgewinne in der Ukraine für Russland nicht positiv.

In Situationen wie diesen, hochkomplex und nicht allein von rationalen Entscheidungswegen bestimmt, bei der sehr viele unterschiedliche Weiterentwicklungen möglich erscheinen, empfiehlt sich die Methode der Szenario-Technik. Hier werden, grob vereinfacht, nach einer Ist-Analyse die entscheidenden Faktoren bestimmt, die den Ausgang und die Weiterentwicklung der aktuellen Situation beeinflussen können. Von den vielen denkbaren Möglichkeiten werden zunächst jene analysiert, die die beiden Extreme bestimmen: Der beste denkbare und mögliche Ausgang und der schlechteste denkbare und mögliche Ausgang. Bei der Auswahl der Szenarien unberücksichtigt bleibt die Eintrittswahrscheinlichkeit – sie muss nur gegeben, aber nicht hoch sein. Zwischen diesen beiden Extremen wird sich nun, wenn die getroffenen Annahmen richtig sind, die Situation weiterentwickeln und alle betroffenen Akteure können ihre Handlungsstrategie auf diese Situationen anpassen und graduell neu ausrichten, wenn es weitere Entwicklungen gibt. Meist wird, wie auch im vorliegenden Fall, noch eine dritte Möglichkeit skizziert, die zeigt, wie sich die Situation aus aktueller Sicht am wahrscheinlichsten entwickelt.

Worst-Case Szenario: „Weitere Eskalation und Internationalisierung“

Aufgrund der aktuell aus russischer Sicht nicht zufriedenstellenden Entwicklung der Kampfhandlungen könnte sich in den Kreisen der russischen Führung zunehmende Frustration ausbreiten. Diese könnte insofern noch gesteigert werden, dass das Kräfteverhältnis sich durch substanzielle Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine langsam zuungunsten Russlands entwickelt. Da der russische Präsident bereits mit nie da gewesen Folgen für die Länder gedroht hatte, die sich Russland in dem Konflikt in den Weg stellen, könnte seine Drohung in diesem Szenario konkrete Folgen haben. Ein Truppenaufmarsch an der NATO-Ostgrenze in Belarus und in Russland hin zum Baltikum könnte hier eine weitere Eskalationsstufe darstellen. Ein Maximalereignis wäre der Einsatz einer taktischen Atombombe gegen ukrainische Einheiten, eventuell in der Nähe der NATO-Flanke. Diese „maximale“ Eskalation, ohne direkt gegen NATO-Kräfte vorzugehen, scheint zwar schwer vorstellbar, liegt aber mittlerweile im Bereich des Möglichen, gerade nachdem Putin im Gespräch mit Frankreichs Präsident Macron sein Vorhaben bekräftigt hat, die gesamte Ukraine kontrollieren zu wollen. Eine solche Aktion hätte, entsprechend kommuniziert, vermutlich eine Einstellung der westlichen Unterstützung für die Ukraine zur Folge, um die Lage nicht weiter in Richtung Atomkrieg eskalieren zu lassen.

Trend-Szenario: „Verhandlungslösung nach Kämpfen“

In diesem Szenario, welches aufgrund der aktuell vorliegenden Daten und Erkenntnisse (Stand 03.03.22) als Trend-Szenario eingestuft wird, erkennt Russland nach einem längeren Zeitraum an, dass es militärisch keinen vollständigen Sieg erringen wird. Um ein „Afghanistan 2.0“ zu verhindern (Bezugnahme auf sowjetische Besetzung Afghanistans in den 1980er Jahren mit zermürbender Guerilla-Taktik der Taliban, welche der Sowjetarmee stark zusetze und letztendlich zum Rückzug führte), wird eine Verhandlungslösung mit der Ukraine angestrebt. Nach zähen Verhandlungen, möglicherweise unter Vermittlung Chinas, tritt die Ukraine die Krim-Halbinsel und die Ost-Oblaste Luhansk und Donezk an die Russische Föderation oder an neu gegründete Republiken ab. Außerdem bekennt sich die Ukraine zur Neutralität. Im Gegenzug schließt die EU mit der Ukraine ein Sofortprogramm im Rahmen des Beitrittskandidatenstatus ab (Erweitertes EU-Assoziierungsabkommen, Zugang zum Binnenmarkt etc.). Perspektivisch ist der Weg für einen EU-Beitritt der Ukraine frei.

Best-Case Szenario: „Zusammenbruch der russischen Frontlinie – Einstellung der Kämpfe“

Der sich abzeichnende Misserfolg vor dem Hintergrund einer erhofften schnellen Kontrolle über die gesamte Ukraine führt zu Druck auf Putin und seinen Machtapparat. Die wichtige Rolle im Widerstand der Zivilbevölkerung gegen den Krieg nehmen die „Soldaten-Mütter“ ein, welche die hohen Verluste in der Ukraine anprangern und sich mit anderen oppositionellen und progressiven Kräften zu einer signifikanten Gruppierung gegen Putin formieren. Parallel wirken die Finanz- und Wirtschaftssanktionen unerwartet effektiv gegen die russische Wirtschaft, welche zu kollabieren droht. Arbeitslosigkeit, Altersarmut und Inflation demoralisieren sogar die ländliche Bevölkerung und machen es den Staatsmedien zunehmend schwer, Putins Kurs zu rechtfertigen. Als dritte Entwicklung sagen sich immer mehr Oligarchen aus Putins Zirkel von ihm los, da diese substanzielle Einschnitte in ihre Reisefreiheit und ihr Vermögen zu spüren beginnen. Sollten genug Personen des Sicherheitsrates der Meinung sein, dass an Putin nicht mehr festzuhalten ist, wäre ein Putsch gegen den Präsidenten und eine Neuausrichtung russischer Außen- und Sicherheitspolitik in diesem Best-Case-Szenario aus westlicher Sicht denkbar.

Um Herausforderungen im Kontext politischer Risiken besser abschätzen und einordnen zu können, bieten wir ab diesem Jahr unsere neue MBI CONIAS Academy an. In unseren Seminaren vermitteln wir spezielles Wissen über politische Risiken, um es Teilnehmenden zu ermöglichen, Transparenz für ihr Unternehmen zu schaffen und Risiken entlang der gesamten Wertschöpfungs- und Lieferkette zu minimieren. Gerne unterstützen wir Sie bei Bedarf außerdem bei Ihrer individuellen Fragestellung. Kontaktieren Sie uns dafür gerne.

Über die Autoren:
Dr. Nicolas Schwank & Leon Seydel
CONIAS Risk Intelligence
Michael Bauer International GmbH