Update Q2 2022: Erste Ergebnisse – Anstieg der Versorgungskrisen

18.07.2022

Noch nie gab es so viel Frühwarnung und selten waren sich die Expert*innen so einig: Der Ausfall des ukrainischen Getreides wird die Anzahl der Hungernden weltweit nach oben schnellen lassen. Weiterhin kann die Unterversorgung mit Lebensmitteln und anderen lebensnotwendigen Ressourcen den sozialen Frieden bedrohen und zu weiteren Konflikten sowie der Eskalation bestehender politischer Konflikte führen.

MBI CONIAS aktualisiert regelmäßig seinen Datensatz zu politischen Konflikten weltweit, gerade wird das Update zum 30.6.2022 ausgeliefert. Können hier schon erste Tendenzen erkannt werden – Vorboten der prognostizierten Konflikte? Bei über 1.000 bestehenden politischen Konflikten weltweit kann im aktuellen Update kein quantitativer Ausschlag neuer Konflikte festgestellt werden. Dennoch gibt es einen leichten Anstieg neuer Konflikte. Vor allem aber zeigt die Analyse, wofür kleinere unorganisierte Gruppen demonstrieren, was bei MBI CONIAS oft als „social protest“ bezeichnet wird. In einer Auswahl verschiedener Länder zeigen wir im Folgenden, ob und wo die vorausgesagte Unterversorgung schon eingetreten ist und welche Reaktionen beobachtbar sind:

In Sri Lanka hatten sich bereits im Februar landesweit Proteste gegen eine knappe Versorgung mit Treibstoffen, Medikamenten und Lebensmitteln entwickelt. Hier ist zwar kein expliziter Bezug zum Ukraine-Konflikt gegeben, da sich der Protest zeitlich vor dem Krieg in der Ukraine einordnen lässt und vor allem gegen eine missglückte Regierungspolitik der eigenen Regierung richtet. Durch die Ukraine-Krise wurde die Thematik jedoch deutlich verstärkt. Der Konflikt könnte als Blaupause dienen, wie andere ähnlich gelagerte Konflikte sich im weiteren Verlauf erstrecken können. Seit einigen Tagen ist der Präsident Gotabaya Rajapaksa nach massiven landesweiten Protesten auf der Flucht.

Die in Ägypten vorherrschende enorme Wasserknappheit ist seit Jahren eine der größten Herausforderungen für die ägyptische Regierung. Hinzu kommen aktuell steigende Preise für Benzin und Diesel. Bereits seit Ende März versucht die Regierung durch eine Deckelung der Brotpreise die Lebensmittelversorgung trotz steigender Inflation zu gewährleisten.

In Libyen kam es erst Ende des Monats Juni in mehreren Städten zu Ausschreitungen. Diese wendeten sich gegen die seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine im Februar stark gestiegenen Lebensmittelpreise, die hohe Inflation und den zeitweiligen Ausfall der Elektrizitätsversorgung.

In Nigeria, das nach Einschätzung von Expert*innen wie viele andere afrikanischen Staaten von einer bevorstehenden Hungerkatastrophe bedroht ist, kam es bislang noch zu keinen entsprechenden Demonstrationen oder Protesten. Demonstriert wurde hingegen gegen die allgemein schlechte Versorgungslage mit Elektrizität.

Ende Juni kam es auch in Ghanas Hauptstadt Accra zu Protesten gegen die gestiegenen Lebenshaltungskosten, in dessen Verlauf 29 Demonstrant*innen verhaftet wurden. Vorher sollen die Demonstrant*innen Reifen angezündet und Steine in Richtung der Polizei geworfen haben. Diese setzte Tränengas ein.

Eine größere und breiter angelegte Widerstandsbewegung gegen die hohen Inflationsraten und die galoppierenden Lebensmittelpreise zeichnet sich derzeit in Uganda ab. Hier wurde bereits der Anführer der Oppositionsbewegung im Juni für einige Tage in Haft gesetzt, da ihm als Initiator einiger Protestmärsche Aufruf zu Gewalt vorgeworfen wurde.

Im Libanon, der seit 2018 unter einer hohen Inflation leidet und dessen wirtschaftliche Lage sich nach einer Explosion riesigen Ausmaßes im Hafen von Beirut im Jahr 2020 weiter stark verschlechtert hat, sollen sich die Lebensmittelkosten im Zuge des Krieges in der Ukraine ebenfalls weiter zugespitzt haben. Dies führte bislang jedoch noch nicht zu Demonstrationen oder Ausschreitungen.

Im Iran gibt es – nach den Protestreihen in 2019 - wieder mehrere Meldungen, denen zufolge Menschen wegen der schlechten Versorgungslage und steigenden Lebensmittelpreisen in den letzten Wochen auf die Straße gehen. Gleichzeitig zu den steigenden Weltmarktpreisen wird die Lage dadurch verschärft, dass der Iran bestimmte Subventionen für Lebensmittel gestrichen hat. Die Proteste begannen diesmal in den weiter von der Hauptstadt entfernten Provinzen, da Teheran selbst stark von Polizei und Miliz kontrolliert wird, um solche Demonstrationen zu unterbinden.

In Ecuador kam es im vergangenen Monat zu landesweiten gewaltsamen Protesten gegen steigende Kraftstoff- und Lebensmittelpreise. Brennende Straßenblockaden, Plünderung von Läden, Zusammenstöße mit Sicherheitskräften unter Einsatz von Tränengas und zahlreiche Verletzte waren die Folge. Aufgerufen zu Demonstrationen hatte die CONAIE, das Bündnis der indigenen Nationalitäten Ecuadors. Aus ländlichen Gebieten hatte sich die Demonstrationswelle schnell auf ganz Ecuador ausgebreitet. Die Menschen fordern feste Treibstoffpreise sowie faire Lebensmittelpreise.

In einem erst vor wenigen Tagen erschienenen Report des UNDP[1], dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, wagen Experten aufgrund der heute bereits bekannten Zahlen einen Blick in die Zukunft und sehen folgende Länder als besonders von Hunger und Armut bedroht: Armenien, Usbekistan, Burkina Faso, Kenia, Ruanda, Sudan, Haiti, Pakistan, Sri Lanka, Äthiopien, Mali, Nigeria, Sierra Leone, Tansania und den Jemen.

Doch auch viele weitere Länder werden die Energie- und Lebensmittelkrise in den nächsten Monaten deutlich spüren. Schon heute ist bekannt, dass selbst hoch entwickelte Industrie- und Wohlfahrtstaaten wie Deutschland die Wucht einer Energiepreiskrise im Herbst fürchten und die Bevölkerung vor den Auswirkungen warnen. In Kombination mit einer gleichzeitig möglichen weiteren Welle der Corona-Pandemie ist weltweit mit einem weiteren starken Anstieg politischer Risiken aller Art in den nächsten Monaten zu rechnen.

Unsere Daten können Ihnen aufzeigen, welche Länder erwartungsgemäß besser oder schlechter durch die Krisen kommen werden. Außerdem können Sie in unserem Bildungsprogramm der MBI CONIAS Academy selbst die Unterschiede zwischen und die Zusammenhänge von politischen Risiken erlernen und politische/r Risikoexpert*in werden. Kontaktieren Sie gerne unser Expertenteam für weitere Informationen.

Über den Autor:
Dr. Nicolas Schwank
CONIAS Risk Intelligence
Michael Bauer International GmbH

Quellenangaben:
[1] UNDP (Ed): Addressing the cost-of-living crisis in developing countries: Poverty and vulnerability projections and policy responses. New York. July 2022. Download: https://www.undp.org/publications/addressing-cost-living-crisis-developing-countries-poverty-and-vulnerability-projections-and-policy-responses