Ad-hoc-Update zum internationalen bewaffneten Konflikt in der Ukraine

25.02.2022

Darstellung der verschiedenen Szenarien für den Verlauf des Konfliktes zwischen der Ukraine und Russland

Einschätzung zur aktuellen Lage im Konflikt zwischen der Ukraine und Russland

Zum Auftakt einer gemeinsamen Veranstaltungsreihe mit der Funk-Gruppe haben wir uns in zwei Webinaren mit der Lage in der Ukraine auseinandergesetzt. Während es in der vergangenen Woche noch vorsichtige Signale der Entspannung gab, kann nun mit trauriger Sicherheit gesagt werden: Es herrscht wieder Krieg in Europa.

Um das bestehende Risiko, welches wir in der Ukraine beobachten, besser verständlich und für weitere Handlungsempfehlungen darstellbar zu machen, bedienten wir uns im Webinar einer Technik, die wir bereits in unseren Länderrisiko-Reports (gemeinsam mit der Funk-Stiftung) verwendet hatten: Dem Szenario-Ansatz. Szenarien helfen in unklaren Krisensituationen, unterschiedliche Strategien für die Zukunft zu entwickeln, die dann immer genauer an die Realität angepasst werden können. Da nun tatsächlich das Worst-Case-Szenario eingetreten ist, beschränken wir uns in der Darstellung auf dieses, erläutern den historischen Verlauf und zeigen abschließend kurz auf, welche Indikatoren für dieses Szenario gesprochen haben.

Im Szenario-Ansatz wird – grob vereinfacht – zunächst die aktuelle Situation einmal im „Längsschnitt“, dem historischen Verlauf und einmal im „Querschnitt“ analysiert. Im Querschnitt bedeutet, die wichtigsten Akteure, ihre Interessen und die von Ihnen verwendeten Maßnahmen werden bestimmt. Da die vier wichtigsten Akteure, ihre Interessen und Strategien im ebenfalls verfügbaren Foliensatz zu dieser Veranstaltung knapp, aber sehr verständlich aufbereitet wurden, verzichten wir an dieser Stelle auf eine ausführliche Darlegung dieses Punktes und verweisen auf Folie 9 der Präsentation.  Aufbauend auf diesen Erkenntnissen werden Szenarien an den beiden Extrempunkten eines denkbar erscheinenden Entwicklungsspektrums angesetzt: Der denkbar beste (best-case) und der denkbar schlechteste Verlauf (worst-case). Hinzu kommt ein Trend-Szenario, das sich nicht an den Extremen orientiert, sondern der Beobachtung der Akteure und ihrer Handlungen. Dieses benennt und zeigt auf, was einem typischen Verhaltensmuster entspricht. In aller Regel sind die Trendszenarien auch jene, die am wahrscheinlichsten erscheinen. Wenn sich die Realität jedoch anders entwickelt als erwartet, helfen die Extremszenarien, um die eigene Strategie graduell an diesen abzuleiten. Seit heute wissen wir, dass das Worst-Case-Szenario für die Ukraine eingetreten ist. Bevor wir Ihnen einen Überblick über die aktuellen Geschehnisse geben, wollen wir aufzeigen, wie es zu den Ereignissen des gestrigen Tages kommen konnte.

Die Entwicklung seit 2007

Für die Situation in der Ukraine ergibt sich deshalb für uns zunächst folgendes Lagebild: Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine hat eine viel tiefer und längere Vergangenheit, als es bisweilen in der aktuellen Berichterstattung erwähnt wird. Zudem darf die aktuelle Situation eigentlich nicht isoliert betrachtet werden. Wir sehen den aktuellen Konflikt als Teil eines umfangreichen Konfliktsystems[1], das teilweise in die Vergangenheit reicht (z.B. Staatszerfallskonflikte nach dem Ende der Sowjetunion ab 1991, jünger aber hier besonders aufschlussreich: Russland – Georgien um die Regionen Abchasien und Südossetien) sowie etliche zeitlich aktuell parallel stattfindende Konflikte.[2] Darunter einige, die nur selten Aufmerksamkeit durch die Medien erfahren haben wie die Konflikte zwischen Russland und seinen baltischen Nachbarstaaten (angeblicher Schutz der russischsprachigen Minderheit), aber auch mit Finnland und Schweden (Beitrittsfreiheit zur NATO) oder mit Polen. Zudem könnte man an dieser Stelle den regionalen Fokus noch erweitern und auf andere geopolitische Machtkonflikte, wie z.B. den zwischen den USA und China verweisen. Der hier gesteckte Rahmen lässt aber keine Möglichkeit, die jeweiligen Ereignisse und Verläufe differenziert darzustellen. Sie werden punktuell aber für die weitere Analyse herangezogen.  Der folgende Abschnitt fokussiert sich deshalb auf die Konfliktlage zwischen Russland und der Ukraine, die wir hier sehr komprimiert darstellen.

Für MBI CONIAS liegt der Konfliktbeginn zwischen den beiden Staaten, die in der Sowjetzeit eng wirtschaftlich und geopolitisch miteinander verbunden waren, spätestens im Januar 2006, als Russland der Ukraine zum ersten Mal sprichwörtlich den Gashahn zudrehte und die energieintensive Industrie in der Ukraine, aber auch die Versorgung der Zivilbevölkerung empfindlich getroffen wurde. Ein weiteres Mal konnten Experten im Zusammenhang mit den sogenannten „Maidan-Protesten“ erahnen, wie angespannt die Lage zwischen beiden Staaten um das Jahr 2013 sein musste. Der damalige ukrainische Präsident Wiktor Janukowytsch, der aus dem Osten der Ukraine stammt, ließ durch seine Regierung unter Ministerpräsident Azarow im November 2013 verkünden, dass die Assoziierungsabkommen mit der EU vorerst nicht unterzeichnet werden sollen. Die nachfolgenden pro-europäischen Proteste und Demonstrationen auf dem Maidan Platz in Kiew wurden außenpolitisch flankiert durch einen drastischen Preisnachlass durch Russland auf dessen Erdgaslieferungen und die Aussicht, der finanziell stark angeschlagenen Ukraine kurzfristig bis zu 15 Milliarden US-Dollar zur Verfügung zu stellen.[3]  Nach mehreren Monaten ständiger Proteste, in deren Folge über 100 Menschen ihr Leben verloren[4], kam es am 22. Februar 2014 zum Höhepunkt: Das ukrainische Parlament enthebt Präsident Janukowytsch des Amtes – dieser flieht darauf zunächst auf die Krim und nachfolgend nach Russland.

In diesem Zusammenhang ergibt sich die bis dahin größte Auseinandersetzung zwischen der Ukraine und Russland: Die Besetzung der Krim im Februar 2014 durch pro-russische Aktivisten und der Ausbruch der Kämpfe im Osten der Ukraine in den industrialisierten Regionen Lugansk und Donezk. Während die Krim rasch unter verwaltungstechnische Hoheit Russlands gestellt wurde und es dort nur noch zu vereinzelten Zwischenfällen kam, wurde im Osten der Ukraine – meist ohne große Beachtung oder Kommentierung durch die Öffentlichkeit in westlichen Ländern – seit 2014 durchgehend gekämpft. Bemerkenswert ist, dass trotz des „nicht-zwischenstaatlichen“ Krieges zwischen der Ukraine und Russland das Handelsvolumen allein im Jahr 2017 um mehr als 27% wuchs.[5] Auch wenn ein Teil der Steigerungen sich möglicherweise durch Währungsschwankungen erklären lassen, bleibt festzuhalten, dass der wirtschaftliche Austausch zwischen beiden Ländern trotz der verhängten Sanktionen in diesen Jahren keineswegs rückläufig war.

Am 1.9.2017 trat das Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU, dessen Aufschub im Herbst 2013 Stein des Anstoßes für die Proteste in Kiew war, vollkommen in Kraft. Die russische Seite reagierte insofern, als dass ihr seit 2015 mehrere schwere Cyberangriffe auf die Ukraine zugesprochen werden[6], zuletzt im Februar 2022.[7]

Worst-Case-Szenario: Ein Krieg zur Kontrolle der gesamten Ukraine?

Das von uns vergangene Woche proklamierte Worst-Case-Szenario trug den Untertitel „Krieg zur Kontrolle der gesamten Ukraine“ – und scheint aktuell von russischer Seite aus in die Tat umgesetzt zu werden. Die um die Ukraine herum stationierten Truppenteile stoßen seit den Morgenstunden am Donnerstag tatsächlich auf den Wegen vor, die wir skizziert hatten. Nachdem in der Nacht durch gezielte Luftschläge die Luftverteidigung der Ukraine geschwächt wurde, rückten gestern Panzerverbände und Bodentruppen auf das Territorium der Ukraine vor. CNN[8] und Tagesschau[9] berichten von Truppenbewegungen auf das Staatsgebiet der Ukraine von der Halbinsel Krim, aus den selbernannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk, aus den dem russischen Staatsgebiet im Nordosten und aus Belarus im Nordwesten. Vor allem die Aggression von belarussischem Territorium aus ist hierbei relevant, da diese Truppen nur ein Angriffsziel haben können: Die Hauptstadt Kiew. Mit dieser Feststellung, welche sich am gestrigen Nachmittag auch zunehmend durch Gefechte am Rande der Metropolregion Kiew[10] äußert, wird klar, dass es Präsident Putin nicht mehr nur um die Besetzung östlicher Teile der Ukraine geht, sondern um die Kontrolle der gesamten Ukraine: Das Worst-Case-Szenario.

Die Nachrichtenlage ist derzeit noch unübersichtlich und viele Berichte nicht zu prüfen. Bestätigt ist, dass es Explosionen auf dem gesamten Staatsgebiet der Ukraine[11] gibt und an verschiedenen Punkten, auch nahe der NATO-Ostflanke an der polnischen Grenze, Militärstützpunkte angegriffen wurden. Der Stand der Gefechte ist hingegen nicht sicher zu bewerten. Abzusehen ist jedoch, dass es sich beim Kampf der Ukrainerinnen und Ukrainer lediglich um temporären Widerstand handeln wird, da das russische Militär in Volumen und Fähigkeiten dem ukrainischen weit überlegen ist. Auf Basis der Rede Putins[12] lässt sich vermuten, dass Russland nach Übernahme der Kontrolle in Kiew die aktuelle Regierung stürzen will. Perspektivisch kann dann mit einer russisch gesteuerten Regierung in Kiew gerechnet werden. Inwieweit auch die Bevölkerung bzw. pro-westliche Aktivisten oder Politiker eine Verfolgung fürchten müssen, ist aktuell noch offen. Sich diese Frage gar nicht erst stellen wollen viele Ukrainer aus den östlichen Landesteilen, welche sich bereits in großen Konvois auf den Straßen in Richtung Westen[13], in Richtung der polnische Grenze bewegen.

Zur geopolitischen Einordung: In der Folge hätte Russland einen ganz entscheidenden geostrategischen Vorteil errungen, in dem es nicht nur die Landverbindung zur Krim unter Kontrolle bringt, sondern auch wichtige Häfen am Schwarzen Meer und die weit nach Westen führenden ertragreichen Agraranbaugebiete in der Ukraine kontrolliert.

Entsprechend der Regularien des NATO-Vertrages wäre dieser Angriff kein NATO-Bündnisfall, da die Ukraine kein NATO-Mitgliedsstaat ist. Humanitär würde der Krieg verheerende Folgen nach sich ziehen. Zwar wären die russischen Streitkräfte den ukrainischen in allen Bereichen deutlich überlegen, zudem könnte in diesem Szenario russische Cyberangriffe auf die Kommunikationsstruktur der ukrainischen Armee zu einem raschen Zusammenbruch der inner-ukrainischen Kommunikation führen, dennoch könnten die Kämpfe zu hohen Verlusten auf ukrainischer Seite führen. Hinzu kommen potenziell bis zu 1,5 Millionen Flüchtende. Erste Anzeichen für eine Flüchtlingsdynamik gen Westen und dabei insbesondere Deutschland sind bereits zuerkennen. Diese Entwicklung könnte weitere Auswirkungen auf die bereits bestehenden verschiedenen Migrationskonflikte in Europa nach sich ziehen.

Aus regional- und global-ökonomischer Sicht zieht der Ausbruch des Krieges fatale Folgen nach sich. Denn die angedrohten harten Wirtschaftssanktionen insbesondere der USA, aber auch der europäischen NATO- und EU-Mitgliedsstaaten werden zeitnah umgesetzt und treffen dabei nicht nur Russland, sondern sekundär auch den Westen. Unter anderen ist ein hoher Anstieg der Energiepreise zu erwarten, der die von COVID-19 noch immer geschwächten Volkswirtschaften teilweise erheblich treffen könnte.

Abschließend ist festzuhalten, dass es sich bei den aktuellen Ereignissen um einen internationalen bewaffneten Konflikt handelt, welcher als Angriffskrieg von russischer Seite einzuordnen ist. Damit ist klar, dass Russland hier in mehrerlei Hinsicht das Völkerrecht bricht. Außerdem ist schon jetzt eines klar: Die Post-Kalter-Krieg-Phase der letzten 30 Jahre ist vorbei. Europa steht vor großen geopolitischen Umwälzungen mit aktuell noch unabsehbaren Folgen.

Abschließende Betrachtung: Konnte der aktuelle Eintritt des Worst-Case-Szenarios vorausgesagt werden?

Wie bereits ausgeführt und in den Seminaren ebenfalls angesprochen, wird die Beschäftigung mit in der Zukunft liegenden Ereignissen immer mit Unsicherheit und Risiko verbunden bleiben. Die Verwendung von Szenarien hilft jedoch, nicht unvorbereitet auf die Zukunft warten zu müssen. Wie ebenfalls im Seminar ausgeführt, ist es schwer, Eintrittswahrscheinlichkeiten für die unterschiedlichen Szenarien zu benennen. Bei der Analyse wurde bereits sehr deutlich, dass das eingetretene Worst-Case-Szenario und das üblicherweise realistische Trend-Case-Szenario bezüglich ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit kaum zu unterscheiden waren. Dies stellt im Vergleich zu den 25 Szenarien in den Länderrisiko-Reports die absolute Ausnahme dar. Im Nachhinein betrachtet: Was sprach für die Entwicklung des gestrigen Tages?

Gründe, die den Eintritt des Szenarios erklären können, liegen nicht auf der statistischen Ebene. Vielmehr geht es um das System Putins, ein Machtapparat rund um den Präsidenten, der das Ende oder vielmehr den Ausgang des Ost-West-Konfliktes nicht akzeptieren kann und jetzt eine der letzten Möglichkeiten sah, dass „Ende der Geschichte“, wie der Ausgang des Kalten Krieges oft bezeichnet wurde, doch noch umzuschreiben. Putin und Russland sind heute zurück auf der internationalen Bühne. Russland ist eine beachtete, gar gefürchtete geopolitische Macht. Wenn Putin sich die Ukraine erneut aneignet, sind viele geostrategische Nachteile, welche Russland durch die Unabhängigkeit der Ukraine erlitten hatte, wieder ausgeräumt.

Auch der Umfang der Truppenstationierung und der gesamte kostspielige Aufwand sprach letztendlich für einen Einmarsch. Wie, so stellten sich einige Analysten zuvor die Frage, sollte Putin nach seiner diplomatischen Maximalforderung an die EU und die NATO hier wieder gesichtswahrend aus dem Konflikt gehen? Heute wissen wir, er wollte es nie.

Hinzu kommen kleinere Indikatoren, welche im Rückblick als Indikatoren eingeordnet werden können: Die russische Absage weiterer diplomatischer Gespräche mit den USA auf niedrigerer Ebene und der überstürzte Abzug einer russischen Yacht aus einer deutschen Schiffswerft, welche Putin selbst gehören soll. Werksmitarbeiter behaupteten zu wissen, dies sei geschehen sei, um die Yacht im Kriegsfall nicht durch das Sanktionsregime zu verlieren.

Bei weiteren Fragen stehen wir Ihnen selbstverständlich gerne jederzeit zur Verfügung, Sie erreichen uns über unser Kontaktformular oder direkt unter info@mbi-geodata.com.

Es bleibt jedenfalls festzuhalten, dass die Ukraine-Krise „nicht vom Himmel gefallen ist“ und der Konflikt spätestens seit 2006 beobachtbar war. Politische Risiken sind frühzeitig erkennbar und man kann sich auf diese vorbereiten.

Über die Autoren:
Dr. Nicolas Schwank und Leon Seydel
CONIAS Risk Intelligence
Michael Bauer International GmbH

Quellenangaben und Verweise:
Erstellung der Grafik: Leon Seydel
[1] Zum Begriff und Erläuterung von „Konfliktsystemen“ oder „Konfliktfamilien“ s. Schwank, Nicolas (2012): Konflikte, Krisen, Kriege. Nomos. S.151 ff.
[2] In der CONIAS Konfliktdatenbank beobachten wir derzeit ca. 1.000 laufende politische Konflikte.
[3] https://www.nzz.ch/russland-verstaerkt-seinen-einfluss-auf-die-ukraine-ld.1058122?reduced=true; ebenso: https://www.fr.de/politik/russlands-belohnung-janukowitsch-11711346.html
[4] https://www.dw.com/de/von-den-maidan-protesten-zum-kampf-um-die-krim/a-17472964
[5] https://wits.worldbank.org/CountryProfile/en/Country/UKR/Year/2018/TradeFlow/EXPIMP
[6] https://www.zeit.de/digital/2022-02/ukraine-cyberangriff-hacker-russland-cyberkrieg
[7] https://www.fr.de/politik/russland-ukraine-konflikt-putin-strategie-cyberangriff-verteidigungsministerium-kiew-zr-91352837.html
[8] https://edition.cnn.com/europe/live-news/ukraine-russia-news-02-23-22/h_82bf44af2f01ad57f81c0760c6cb697c
[9] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-bombardements-103.html
[10] https://www.tagesschau.de/newsticker/liveblog-russland-ukraine-krise-donnerstag-101.html
[11] https://www.spiegel.de/ausland/ukraine-krieg-kiew-meldet-dutzende-tote-soldaten-berichte-ueber-explosionen-in-mehreren-staedten-a-bade119b-95a3-4e56-98b0-c11bdff67b5c
[12] https://www.youtube.com/watch?v=_5YeX8eCLgA
[13] https://www.welt.de/politik/ausland/article237114005/Bilder-aus-Ukraine-Flucht-aus-Kiew-Schlangen-vor-Geldautomaten-und-Tankstellen.html