Schicksalswahlen in Brasilien: Einschätzungen unserer ExpertInnen

02.10.2018

Politische Risiken und Wahlen in Brasilien

Brasilien ist das "B in BRICS" - die größte Volkswirtschaft Südamerikas und eines der führenden Schwellenländer des 21. Jahrhunderts. Wie viel von diesem positiven Entwicklungstrend ist jedoch nach fünf Jahren Dauerkrise noch geblieben? Korruptionsskandale auf der obersten politischen Ebene, Massenproteste und eine wirtschaftliche Rezession haben die Aussichten auf Stabilität nachhaltig getrübt. Am Sonntag stehen in Brasilien Präsidentschaftswahlen an, denen viele Beobachter eine zukunftsweisende Bedeutung zuschreiben. Wird es Brasilien nach den Wahlen gelingen, zu seinem früheren Status als Regionalmacht und weltweit angesehener Wirtschaftsplayer zurückzukehren? Oder wird sich der WM Gastgeber von 2014 in ein nach innen gerichtetes Land verwandeln, das sich auch in der Zukunft vor allem mit internen Krisen herumschlagen muss?

Im Blickpunkt: Regionales Risiko in Brasilien

Wie unsere auf die lokalen Sicherheitsverhältnisse ausgerichtete Risikokarte 08/2018 zeigt, ist Brasilien trotz aller Spannungen in den Wochen vor der Wahl relativ stabil geblieben. Zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kam es im Nordosten von Maranhão, wo ein Anführer des Guajajara Stammes ermordet wurde, die sich gegen die vermehrte Präsenz von Holzfällern in ihrem Land wehren. Seit dem Jahr 2000 hat dieser Konflikt bereits rund 80 Guajajaras getötet. Weiteres Kopfzerbrechen dürfte der neuen Regierung auch die wachsenden Spannungen zwischen Anwohnern und mehr als 32.000 venezolanischen Asylsuchenden in Grenzregionen wie dem nordwestlichen Roraima bescheren, wo im August zum ersten Mal mehrere gewalttätige Übergriffe registriert wurden. Brasiliens größte Städte São Paulo und Rio de Janeiro blieben zwar von interkommunalen Streit verschont, die Sicherheitslage dort ist jedoch stark davon betroffen, dass die amtierende Temer Regierung hier seit Monaten mit harter Hand und weitaus mehr Ressourcen gegen die organisierte Kriminalität vorgeht – dies beinhaltet auch so genannte Mega-Operationen in den Favelas von Rio, bei denen allein am 20. August über 4.000 Sicherheitskräfte, gepanzerte Mannschaftswagen und sogar Flugzeuge zum Einsatz kamen.

Political Risk Map Brasilien

#Schnappschuss: Präsidentschaftswahlen in Brasilien – ein Risikofaktor?

Hunderttausende BrasilianerInnen protestierten in den vergangenen Tagen unter dem Motto Ele Não (Nicht Er) gegen den derzeitigen Favoriten Jair Bolsonaro, der auch als "Trump der Tropen" Schlagzeilen macht. Doch was würde seine Wahl für die internationalen Partner Brasiliens bedeuten?
Im CONIAS-Risikobericht für Brasilien stand die Wahl von Bolsonaro, einem ehemaligen Militäroffizier und Mitglied der konservativen sozialliberalen Partei, der eine harte Haltung gegenüber Kriminalität und Korruption versprach, gar am Beginn eines fiktiven Worst-Case-Szenario. Würden sich die Wähler für den Außenseiter-Kandidaten mit Unterstützung des "unbestechlichen" Militärs entscheiden, und ihm die Lösung der wichtigsten Probleme - Sicherheit, bessere Sozialdienste und vor allem die Bekämpfung der Korruption im politischen Establishment - zutrauen? Wenn ja, könnte seine Wahl Brasiliens Sicherheitskräfte nach über 30 Jahren wieder ins Zentrum der politischen Macht bringen und den besorgniserregenden Trend der Militarisierung der Innenpolitik des Landes fortsetzen? Könnte nicht genau dies weitere Gewalt auslösen, die Brasilien zu einem weniger sicheren Reiseziel machen würde? Im Hinblick auf internationale Geschäfte und Investitionen ist anzunehmen, dass Bolsonaro, der offen zugibt, wenig Ahnung von wirtschaftlichen Fragen zu haben, sich für eine nationalistischere Haltung zum Handel entscheidet und gar protektionistische Reflexe zu Tage kommen. Daher kommt der Bericht zu dem Schluss, dass sich Anleger im Fall seiner Wahl auf eine zumindest kurz- und mittelfristige Zunahme der Unsicherheit vorbereiten und notwendige Vorkehrungen treffen sollten. Die gesamte Analyse können Sie hier kostenlos herunterladen.

#ExpertInsight: Interview mit Isabel Barreto, Junior Analyst bei CONIAS

Isabel Barreto Junior Analyst bei CONIAS

In unserem #ExpertInsight-Interview erklärt uns Isabel Barreto, Junior Analyst bei CONIAS, warum es sich in diesem Monat ganz besonders lohnt, Brasilien im Auge zu behalten.

Isabel, Brasilien ist das "B" in "BRICS" und ein Wirtschaftsmotor für die ganze Region - was macht es auch für internationale Unternehmen und Investoren so attraktiv?

Brasilien ist das fünftgrößte Land der Welt und das sechstgrößte mit Blick auf die Bevölkerung - es ist einfach zu groß, um übersehen zu werden! Der Handel des Landes mit der Europäischen Union macht etwa ein Drittel des Gesamthandels der EU mit Lateinamerika aus - Brasilien ist der größte Exporteur von Agrarerzeugnissen in die EU, die wiederum an erster Stelle der ausländischen Investoren in Brasilien steht. Darüber hinaus sind die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit Brüssel in vollem Gange. Brasilien ist reich an Rohstoffen und natürlichen Ressourcen, der zweitgrößte Produzent von Eisenerz weltweit und hat große Offshore-Ölfunde zu verbuchen. Das Land profitiert zudem von seiner strategischen Lage und ist Heimat einer großen und gut ausgebildeten Erwerbsbevölkerung. Nicht zuletzt ist Brasilien auch durch Foren wie die G20, MERCOSUR, UNASUR und BRICS gut vernetzt.

Bei CONIAS beobachten wir monatlich mehr als 170 politische Konflikte auf dem amerikanischen Kontinent - warum sollten wir diesen Monat besonders auf Brasilien achten?

In Übereinstimmung mit unseren Ergebnissen für andere Länder in der Region werden Sicherheit und Stabilität in Brasilien weiterhin durch organisiertes Verbrechen (sowohl Drogen als auch Menschenhandel), Konflikte zwischen expandierenden landwirtschaftlichen Betrieben und indigenen Stämmen sowie wachsenden sozialen Spannungen zwischen venezolanischen Flüchtlingen und der Aufnahmegesellschaft in Frage gestellt. Darüber hinaus hat sicherlich die Kampagne für die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen das Land und die Gesellschaft geprägt, mit einem Kandidaten, der aufgrund einer Haftstrafe vom Wettbewerb ausgeschlossen wurde, einem anderen Kandidaten, der mit einem Messer angegriffen wurde, Massenprotesten gegen einzelne Kandidaten und einer beispiellosen Polarisierung der Wählerschaft. Was auch immer am Sonntag passiert, Brasilien könnte einer Zeit großer Unsicherheit entgegen blicken.

Am 7. Oktober werden in Brasilien Präsidentschaftswahlen stattfinden - wer sind die Hauptwettbewerber und wie hoch sind ihre Gewinnchancen?

Dreizehn Kandidaten konkurrieren um das höchste Amt Brasiliens, das derzeit von Michel Temer geführt wird. Dieser hat sich angesichts einer Unbeliebtheitsrate von 82% im Juni 2018 dagegen entschieden, noch einmal anzutreten. Da von keinem Kandidaten erwartet wird, dass er schon in der ersten Runde die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen kann, wird die Wahl wahrscheinlich erst in einer zweiten Runde am 28. Oktober entschieden. Hier könnte der derzeitige Spitzenkandidat in den Umfragen und Kongressabgeordnete für Rio de Janeiro, Jair Bolsonaro, am wahrscheinlichsten von Fernando Haddad herausgefordert werden. Dieser rückte als Kandidat der Arbeiterpartei für den ehemaligen Präsidenten Lula da Silva nach, der gerade eine Haftstrafe wegen Korruption absitzt und daher nicht antreten darf. Aber auch Marina Silva, Lulas ehemalige Umweltministerin, der Kandidat der Zentrumsparteien, Geraldo Alckmin, der 2006 gegen Lula verlor, und der Mitte-Links-Kandidat Ciro Gomes haben eine Chance, in die zweite Runde zu kommen.
Angesichts der hohen Polarisierung der Kampagne ist es wahrscheinlich, dass die Wähler der vier Anti-Bolsonaro-Kandidaten in der Stichwahl diesem Lager treu bleiben werden.
Das Ergebnis der Wahlen ist zu diesem Zeitpunkt keineswegs ausgemacht, da Bolsonaro in Umfragen sowohl hinsichtlich der Zustimmung als auch der Ablehnung führt. Viele vergleichen ihn und seine polarisierende Rhetorik, die als frauenfeindlich, rassistisch, schwulen- und fremdenfeindlich gilt, mit US-Präsident Donald Trump und wie er, sieht sich Bolsonaro bereits vor der Wahl mit Massenprotesten konfrontiert. Vor einigen Wochen wurde er von einem möglicherweise geistig verwirrten Mann sogar bei einem Wahlkampfauftritt mit einem Messer attackiert.

Du bist gerade selbst von einer Reise nach Brasilien zurückgekehrt - wie würdest du die aktuelle Stimmung unter den WählerInnen beschreiben?

Man kann die Polarisierung zwischen den Unterstützern von Bolsonaro und denen, die das Lula-Camp unterstützen, wirklich deutlich spüren - sogar Familienmitglieder finden sich auf verschiedenen politischen Seiten wieder. Gleichzeitig gibt es auch eine tiefe Frustration und mangelndes Vertrauen in öffentliche Institutionen, zu denen ein Politiker wie Bolsonaro beiträgt, indem er zum Beispiel ankündigt, eine Wahlniederlage nicht akzeptieren zu wollen. Während einige ihn als Heilsbringer loben, weil er im Vergleich zu anderen PolitikerInnen bisher in keine Korruptionsskandale verwickelt war, treibt die Wut darüber, dass er das Militär lobt und über seine herablassenden Äußerungen gegen Frauen und Minderheiten, zehntausende auf die Straße. Brasilien hatte in den vergangenen Jahren viele Massenproteste erlebt, aber dies ist das erste Mal, dass Menschen nicht gegen die Regierung demonstrieren, sondern gegen einen Kandidaten, bevor dieser sein Amt überhaupt angetreten hat. Viele Wähler, die auch die Arbeiterpartei und die Korruption früherer Regierungen satt haben, sehen den 7. Oktober als eine Wahl zwischen „Pest und Cholera“. Die anti-Bolsonaro Stimmung ist unter den Wählern allgemein oft ebenso so stark wie die Abneigung gegenüber der Arbeiterpartei. Selbst viele von denjenigen, die Bolsonaros aggressive Tonart ablehnen, sehen seine Wahl als einzigen Weg zu verhindern, dass die Arbeiterpartei zum fünften Mal in Folge die Präsidentschaftswahl gewinnt.

Brasilien ist ein wichtiger politischer und wirtschaftlicher Akteur in der Region - welche Auswirkungen könnten diese Wahlen auf die kurz- und mittelfristige politische Entwicklung des Landes haben? Was sind die größten Risiken?

Wer auch immer die Wahlen gewinnen wird, Unsicherheit wird - zumindest kurzfristig - weiterhin ein wesentliches Merkmal der brasilianischen Politik bleiben. Gleichzeitig ist die To-Do-Liste der Regierung sehr lang und voller dringender Probleme: von öffentlicher Gesundheit und Sicherheit angefangen, über die Wiederbelebung der Wirtschaft, die Bekämpfung von Korruption und Arbeitslosigkeit, Reformbedarf der Rente und Sozialer Sicherheit bis hin zum Bildungswesen. Ein Bolsonaro-Sieg würde sicherlich den gegenwärtigen Trend der Militarisierung im Umgang mit der organisierten Kriminalität stärken, was die Lage in den Favelas weiter verschlechtern könnte. Das Militär würde sicher wieder mehr politische Macht erhalten und Waffenbeschränkungen könnten unter dem Vorwand der öffentlichen Ordnung gelockert werden. In Bezug auf die Außenpolitik und die Wirtschaft gibt es kein klares Szenario: Bolsonaro wird sicher bessere Beziehungen zu den Vereinigten Staaten anstreben und die geplante Privatisierung von Petrobas könnte ausländischen Unternehmen zugute kommen. Der Kandidat drohte aber zuletzt auch damit, nach seinem Wahlsieg die „kommunistischen“ Vereinten Nationen zu verlassen, da sie den Ausschluss Lulas von der Wahl kritisiert hatten. Eine weiterer Grund zur Sorge ist, dass Bolsonaro, der selbst erklärt hat, nicht viel über Wirtschaft zu wissen, schon vor der Wahl einen sehr öffentlichen Streit mit seinem zukünftigen "Superminister" und Wirtschaftsguru Paulo Guedes darüber angefangen hat, wie die künftige Steuerpolitik und die Finanzierung der dringend benötigten Generalüberholung des brasilianischen Rentensystems aussehen sollte.


Isabel Barreto ist Junior Analyst bei CONIAS Risk Intelligence mit einem Schwerpunkt auf politischen Konflikten auf dem amerikanischen Kontinent. Zu ihren Forschungsinteressen gehören auch Fragen der Sicherheitsektorreform (SSR) und der Politik autokratischer Regime. Derzeit studiert sie zudem Politik- und Kulturwissenschaften an der Universität Heidelberg.

Das Gespräch führte Dr. Magdalena Kirchner, COO von CONIAS Risk Intelligence.

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