Anfang der Woche sahen viele Beobachter die Nuklearmächte Indien und Pakistan schon am Rande eines Krieges mit katastrophalen Folgen: In Reaktion auf eine Anti-Terror-Operation der indischen Luftwaffe auf die pakistanische Stadt Balakot hatte das pakistanische Militär zwei indische Flugzeuge abgeschossen.
Warum kam es zu dieser Eskalation und war sie vielleicht sogar absehbar? Was und wer steckt hinter dem „Kaschmir-Konflikt“, warum lässt sich die Region auch nach Jahrzehnten der Gewalt nicht befrieden? Welche innenpolitischen Faktoren muss man gerade vor der Parlamentswahl in Indien beachten und – wie geht es weiter?
Für unser #ExpertInsight haben wir Julia Nelles, Südasien-Spezialistin hier bei CONIAS, gefragt, wie der Vorfall einzuordnen ist und warum man die Entwicklungen um Kaschmir weiterhin im Auge behalten sollte.
1. Du beobachtest für CONIAS die Entwicklungen in Südasien intensiv – hat dich die aktuelle Eskalation zwischen Indien und Pakistan überrascht?
Leider nicht – der Konflikt um Kaschmir ist seit Jahrzehnten von Gewalt geprägt, Verhandlungen, die zu einer politischen Lösung führen könnten, geraten immer wieder ins Stocken. An der 740 km langen militärischen Kontrolllinie, die den faktischen Grenzverlauf markieren und damit also deeskalieren soll, sind Schusswechsel, auch mit schwerer Artillerie und Toten fast schon an der Tagesordnung – mehrere Tausend Mal wurde der Waffenstillstand dort gebrochen. Betroffen sind sowohl die Region Jammu und Kaschmir auf indischer, als auch Asad Kaschmir auf der pakistanischen Seite. Der Abschuss von Kampfflugzeugen ist also sicher eine neue Steigerung im Konflikt, muss aber vor allem als Teil eines gefährlichen Eskalationstrends gesehen werden.
2. Worum geht es in dem Konflikt?
Die indisch-pakistanische Rivalität, in deren Zentrum der Konflikt um Kaschmir steht, ist so alt wie seine Protagonisten selbst. Er geht auf die Teilung Britisch-Indiens in die hinduistische damalige indische Union und das muslimische Pakistan, das damals noch Bangladesch umfasste, im Jahre 1947 zurück. Der bis heute ungeklärte Status des ehemals unabhängigen Fürstentums Kaschmir löste auch aufgrund von Ressourcen, seiner besonderen geostrategischen Lage und zunehmend symbolischen Bedeutung für beide Staaten bereits dreimal Anlass für kriegerische Auseinandersetzungen (1947, 1965, 1999). Heute ist das Gebiet zwar de-facto zweigeteilt, die Bevölkerung im indisch kontrollierten Teil steht aber dennoch dauerhaft im Kreuzfeuer der Gewalt: Pro-pakistanische, islamistische oder separatistische Kräfte liefern sich fast täglich bewaffnete Auseinandersetzungen mit indischen Sicherheitskräften, die meist auf beiden Seiten tödlich enden.
3. Nun ist die Lage doch deutlich eskaliert - Was ist der konkrete Anlass?
Am 14. Februar erreichte der Konflikt einen neuen Höhepunkt, als ein Selbstmordanschlag der pakistanischen Terrororganisation „Jaish-e-Mohammed“ (JEM) mehr als 40 indische Sicherheitskräfte tötete, mehr als jemals zuvor in der Geschichte Kaschmirs. Indien verdächtigt Pakistan seit langem, diese und andere islamistische Gruppen zu unterstützen und ihnen sichere Zuflucht zu bieten. Anschuldigungen von Seiten der indischen Regierung folgten prompt. Doch auch angesichts der allgemein angestiegenen Terrorgefahr im Rest des Landes steht die Regierung in Neu Delhi unter Druck: allein in der Region Jammu und Kaschmir hat die Zahl terroristischer Anschläge seit 2014 um mehr als 170 % zugenommen, doch auch in Punjab, Madya Pradesh und Uttar Pradesh sowie in Delhi kam es wiederholt zu Gewalt. Der von der indischen Luftwaffe am 26. Februar als Vergeltungsschlag ausgeführte Angriff auf ein Lager der JEM im pakistanischen Khyber Pakhtunkhwa provozierte wiederum Islamabad dazu, den Abschuss zweier indischer Kampfjets in Auftrag zu geben.
4. Im Mai finden in Indien Parlamentswahlen statt. Kann die Konfrontation Premierminister Narendra Modi schaden oder nutzen?
Die Konfrontation so kurz vor der Parlamentswahl kann für die Regierung hilfreich sein, sollte sie das bisherige Gewaltniveau nicht überschreiten. Die regierende Volkspartei BJP gilt als konservativ und hindu-nationalistisch; in dieser Frage Entschlossenheit zu demonstrieren, kann die eigene Wählerschaft mobilisieren und den Trend sinkender Umfragewerte auch für Regierungschef Modi möglicherweise umkehren. Dies erklärt auch, warum sich Modi im Kaschmir-Konflikt immer wieder einer einschlägigen anti-pakistanischen und nationalistischen Rhetorik bedient. Seine Kritiker, auch auf der pakistanischen Seite, werfen ihm vor, politischen Profit aus den Geschehnissen schlagen zu wollen. Aus den Reihen der Opposition heißt es, Modi betreibe eine „eklatante Politisierung der Opfer, die unsere Streitkräfte gebracht haben.“
5. Ist mit weiterer Instabilität zu rechnen?
Es spricht auch vor dem Hintergrund unserer langjährigen Erfahrung mit dem Konflikt wenig bis gar nichts dafür, dass der Konflikt um Kaschmir in den kommenden Jahren weniger gewaltsam ausgetragen wird. Schon wenige Tage nach dem Zwischenfall ist man mittlerweile wieder zur „Routine“ – den gegenseitigen Beschuss an der Demarkationsgrenze – zurückgekehrt.
Die internationale sorgenvolle Reaktion auf den Abschuss von Kampfflugzeugen, was seit 1971 nicht mehr vorgekommen ist, richtet sich vor allem darauf, was passieren könnte, sollten sich weder die beteiligten noch externe Parteien für eine Abschwächung der Eskalationsspirale einsetzen. Schließlich verfügen beide Staaten seit Ende der 1990er Jahr über Atomwaffen. Dennoch spricht aktuell wenig für ein solches Szenario: Sowohl China, dass das Gebiet Aksai Chin in der Kashmir-Region kontrolliert und damit selbst unterschwellig in den Konflikt verwickelt ist, als auch die EU, USA und Russland haben bereits zur Mäßigung der Streitparteien aufgerufen. Auch in Islamabad signalisierte Ministerpräsident Imran Khan ein Interesse an Entspannung - weder Pakistan noch Indien, das seinen Status als Wirtschaftsmacht zuletzt immer mehr ausbauen konnte, können von einem Krieg wirklich profitieren.
6. In Folge der Eskalation ist der Luftraum über Pakistan vorübergehend geschlossen und der Luftverkehr zwischen Asien und Europa stark beeinträchtigt worden. Müssen Urlauber sich hier auf dauerhafte Schwierigkeiten einstellen?
Die Einschränkungen waren beispielsweise für den Reiseverkehr über Bangkok deutlich spürbar, sind doch aber eher als vorübergehend einzustufen. Pakistan hat bereits angekündigt, ab dem 1. März den eigenen Luftraum wieder zu öffnen. Selbst unmittelbar nach der Eskalation, als Pakistan seinen Luftraum komplett und Indien Teile des Nordens hat sperren lassen, konnte beispielsweise China zur Fortsetzung des Flugverkehrs beitragen. Peking gestattete ausweichende Überflüge über sein Territorium. Viele der betroffenen Airlines haben zudem rasch mit Anpassungen ihrer Routen oder zusätzlichen Stopps reagiert.
7. Beide Seiten haben signalisiert, keine Eskalation zu wollen - wie und von wem kann der Konflikt nachhaltig entschärft werden?
Eine einfache und schnelle Lösung ist alles andere als greifbar. Zunächst einmal bräuchte es Einigkeit über das Verfahren: Wer soll mit am Tisch sitzen? Pakistan sieht die Vereinten Nationen als Forum für einen Einigungsprozess – Indien hingegen besteht darauf die Konflikte in und um Kaschmir bilateral, ohne externe Einmischung zu lösen. Erschwerend kommt natürlich hinzu, dass der Konflikt allein schon aufgrund seiner langen Dauer ein fester Bestandteil des eigenen Selbstverständnisses der beteiligten Akteure geworden ist. Und so droht der Partei, die als erste nachgibt, möglicherweise der Zorn von Nationalisten und Hardlinern in den eigenen Reihen. Dass es nicht nur bergab gehen muss in den bilateralen Beziehungen, hatte man bereits Mitte der 2000er Jahre schon einmal unter Beweis gestellt: Damals hatten Pakistan und Indien Kaschmir als gemeinsames Problem erkannt, und in einem Verbunddialog auch gemeinsame Interessen wie Drogenhandel, Wirtschaft und Handel diskutiert. Ernsthafte Konzessionen Pakistans auf dem Weg zurück zum Dialog wären beispielsweise eine entschlossenere Verfolgung terroristischer Gruppierungen wie der JEM oder Lashkar-e-Taiba durch die eigenen Sicherheitskräfte. Die indische Regierung wiederum sollte ihre nationalistische und anti-pakistanische Rhetorik entschärfen und sich in Kaschmir mehr um eine politische Lösung als um militärische Dominanz bemühen.
Julia Nelles ist Analystin bei CONIAS Risk Intelligence und Mitarbeiterin im CONIAS-Analyseteam mit einem Schwerpunkt auf Süd-Asien und Europa. Die Fragen wurden von Dr. Magdalena Kirchner, COO von CONIAS Risk Intelligence, gestellt.
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