Kleiner Tiger großer Sprung? – Westbengalen im Fokus

30.10.2018

Experten zufolge ist Westbengalen, Indiens viertgrößter Bundesstaat, auf dem Sprung zum Top-Wirtschaftsstandort des Subkontinents. Mehr als 11 Prozent Wirtschaftswachstum im Jahr kann die Region seit 2010 im Durchschnitt verbuchen und steht damit im landesweiten Vergleich der Wirtschaftsstärke auf Platz sechs. Dass Westbengalen über wertvolle Bodenschätze wie Kohle und Eisenerze verfügt ist bekannt, doch mehr und mehr wächst in der Region auch ein beachtlicher High-Tech-Sektor heran. Global Player wie Bosch und BASF haben das wirtschaftliche Potential der Region schon erkannt und sind – wie etwa 200 weitere deutsche Unternehmen – derzeit mit Niederlassungen dort vertreten. Wie stehen die Chancen, dass das ehemals fast ausschließlich mit wirtschaftlichem Niedergang und politischer Gewalt assoziierte Westbengalen, wie jüngst von Regierungschefin Mamata Banerjee angekündigt, in naher Zukunft als „Bestbengalen“ andere Standorte in Indien überholen wird?

Westbengalen im Fokus

Vorteil Westbengalen: Infrastruktur, Bildung und Investitionsanreize

Die regionalen Entwicklungen sind natürlich nicht von nationalen Bedingungen zu lösen. Für Wohlwollen bei ausländischen Firmen und Investoren am Wirtschaftsstandort Indien sorgen die Bestrebungen der Regierung, das Land wirtschaftlich interessanter zu machen. Die drei großen Ziele von Premierminister Narendra Modi sind Verbesserungen in der Infrastruktur, Erleichterungen im Export und im Zugang ausländischer Investoren zum indischen Markt. Die Situation für ausländische Investoren hat sich bereits enorm verbessert und Unterschiede zu ihren einheimischen Mitbewerbern sind kaum noch vorhanden. Gleichzeitig werden auch bürokratische Hemmnisse abgebaut, beispielsweise gibt es seit 2015 für deutsche Firmen ein Schnellverfahren für Genehmigungen. Eine Steuerreform brachte 2017 zusätzliche bürokratische Erleichterungen für Firmen beim Gütertransport, die vor allem den Prozess der Besteuerung vereinfacht.

Von der Strategie, auch durch mit massiven Steuervergünstigungen verbundene Sonderwirtschaftszonen (SWZ), wirtschaftliches Wachstum gezielt in bestimmten Regionen anzukurbeln, profitiert auch Westbengalen enorm. Der Bundesstaat besitzt mittlerweile sieben aktive SWZ, unter anderem in Kalkutta und Falta, und 14 weitere befinden sich in der Planung. Damit liegt die Region zwar immer noch deutlich hinter Karnataka und der IT-Hochburg Bangalore, könnte jedoch von einem möglichen Rückgang des SEZ-Ausbaus dort profitieren. In Bangalore sind zudem aufgrund der zunehmenden Verdichtung zuletzt auch die Betriebskosten für Firmen deutlich gestiegen. Standorte wie Kalkutta stellen hier eine attraktive Ausweichmöglichkeit dar, besonders mit Blick auf die Mieten.

Auf umfassende Ankündigungen im Bereich Investitionen im Bereich Infrastruktur ließ die Regierung Modi zwar erst mit deutlichem Abstand auch Taten folgen, doch der Staatshaushalt für 2018/2019 sieht nun doch massive Investitionen vor. Auch die Regierung Westbengalens geht diese Aufgabe entschlossen an: Industrieparks werden modernisiert und die Infrastruktur, einschließlich der Energieversorgung, wird ausgebaut. Dies soll auch dazu beitragen, den durch die Neugründung von IT-Parks vorangetrieben Ausbau der High-Tech-Branche, weiter zu unterstützen.

Auch im Bereich der Bildung zeigt sich, dass Indien zumindest an einigen Bildungsstandorten den internationalen Vergleich nicht scheuen muss. Das gilt auch für Westbengalen, wo Unternehmen auf der Suche nach hochqualifizierten Mitarbeitern in Zukunft von einer wahren Bildungsoffensive profitieren könnten: Hier sollen in den nächsten Jahren ganze fünf neue Universitäten entstehen!

Die ersten Zahlen aus diesem Jahr belegen, dass die westbengalische Charmeoffensive bereits erste Resultate zeigt. Der Bundesstaat schafft es, im indischen State Investment Potential Index von 2018 elf Plätze im Vergleich zum Vorjahr gut zu machen und im April entschied sich die polnische Regierung, unter anderem im Bereich Energie, verstärkt in Westbengalen zu investieren. Das ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass die Region im Ease of Doing Business Report der Weltbank 2012 noch den letzten Platz belegt hatte.

Die Schatten der Vergangenheit?

Trotz aller aktuellen Euphorie sollten politische Risiken nicht außer Acht gelassen werden, schließlich liegen hinter Westbengalen Jahrzehnte der Gewalt, die sich nicht über Nacht abschütteln lassen und deren Auswirkungen auch heute noch spürbar sind.

Seit 1967 ist die Region als Teil des so genannten Roten Korridors von der teils hoch gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen Regierung und den Naxaliten betroffen, die mit immerhin noch 50,000 bewaffneten Kämpfern einen Regimewechsel nach maoistischem Vorbild anstreben. Als Ursache und Antrieb des Konflikts gilt aber auch die gesellschaftliche und ökonomische Diskriminierung nicht-hinduistischer Bevölkerungsteile - hier genießt die Organisation durchaus Rückhalt und rekrutiert auch weiterhin Kämpfer. Eine wichtige und für Unternehmen hoch problematische Einnahmequelle der Gruppe sind heutzutage vor allem Schutzgelderpressungen. Um den Einfluss der Naxaliten zurückzudrängen, baute die lokalen Regierung die Polizeipräsenz vor Ort aus und förderte gleichzeitig die wirtschaftliche Integration der Region. Seit 2016 geht auch daher die Zahl der Vorfälle mit Beteiligung der Naxaliten zurück.

Doch die Naxaliten sind nicht das einzige Problem in Westbengalen, mit dem sich Unternehmen konfrontiert sehen. Seit Jahren treiben vor allem im Bauwesen kriminelle Syndikate ihr Unwesen, auch mit engen Verbindungen in die höchsten Verwaltungsebenen. Dort, wo Bauherren beispielsweise nicht das überteuerte und oft minderwertige Baumaterial des Syndikats kaufen, kommt es oft zu Gewalt und zur Behinderung von Bauprojekten. Entsprechend harsche Kritik und Anschuldigungen aus Delhi haben zuletzt auch die Beziehungen zwischen der Lokal- und der Zentralregierung schwer belastet.

Auch die Wirtschafts- und Investitionspolitik Kalkuttas ist bei der einheimischen Bevölkerung keineswegs unumstritten. Seit 2011, als die Errichtung einer neuen SWZ vor allem bei Beschäftigten im Agrarsektor auf Widerstand stieß, die um ihr Land und somit ihre Existenzgrundlage fürchteten, haben sich Zahl und Umfang der Proteste jedoch deutlich gelegt. Die Landwirtschaft ist bis heute ein elementarer Bestandteil der Wirtschaft in Westbengalen.
Wie viele andere Provinzen ist Westbengalen ein ethnischer und religiöser Schmelztiegel – mit entsprechenden gesellschaftlichen Risiken: Im Sommer 2017 kam es im Zuge des Konflikts zwischen der Regierung und ethnischen Gorkhas, die einen eigenen Bundesstaat fordern, zu Streiks und gewaltsamen Ausschreitungen mit enormen Folgen für die Teeproduktion und die Tourismusindustrie in der Region. Auch der seit 1947 ungelöste Konflikt zwischen Muslimen und Hindus stellt für das soziale Gefüge Westbengalens, hier bekennt sich immerhin fast ein Drittel der Bevölkerung zum Islam, einen potentiellen Risikofaktor dar.

Eine günstige geographische Lage, Fortschritte im Bildungswesen und bei der Infrastruktur und eine durchaus ambitionierte Regierung auf der Suche nach Investitionen. Westbengalen hat großes wirtschaftliches Potential und arbeitet hart daran, dieses auch auszuschöpfen. Diese Entwicklung bietet einige Anreize für Firmen und Investoren, vor allem, wenn diese regionale Besonderheiten und Risiken in den Blick nehmen. Denn auch wenn die in der Vergangenheit so dominanten Konflikte und Spannungen in der Region (noch) nicht abschließend gelöst werden konnten, so ist doch eine positive Tendenz erkennbar, wie beispielsweise in der Auseinandersetzung mit den Naxaliten. Probleme wie Korruption und gesellschaftliche Konflikte dürfen dennoch nicht außer Acht gelassen werden, wenn sich ausländische Unternehmen für Westbengalen entscheiden und sollten Eingang in die Strategiefindung für Markteintritt und Investitionen finden. So lassen sich sowohl etwaige Nachteile und böse Überraschungen bei einer Niederlassung in Westbengalen vermeiden und als auch die Chancen erhöhen, einen nachhaltigen Beitrag zur positiven Entwicklung der Region weg von Konflikten, hin zu wirtschaftlichem Wachstum zu leisten.

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